Kernsystem für Bestands- und Schadenverwaltung

Ein Artikel von Dr. Oliver Kuhnle, Leiter Programm-Management Komposit, Württembergische Versicherung | 16.03.2023 - 11:50

Die Systeme kommunizieren untereinander über Schnittstellen, was es ermöglicht, einzelne Bausteine eines Systemverbunds zu verändern oder gar auszutauschen, ohne die gesamte Systemkette erneuern zu müssen. Die fachliche Wertschöpfung hängt damit nicht mehr nur von einem monolithischen System ab und es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Lebenszyklen einzelner Systeme variieren. Der Wechsel von monolithischen Systemen hin zu einem schnittstellenbasierten, dezentralen Systemverbund ist nicht nur eine Aufgabe der Unternehmens-IT, sondern betrifft auch die Fachlichkeit. Die operativen Fachprozesse, die Anforderungen an die Projektarbeit und die darin involvierten Mitarbeiter sind von dieser Veränderung ebenfalls betroffen. Infolgedessen stellt eine solche Veränderung eine Herausforderung für Technik, Prozesse und Menschen dar.

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© Stefan Schweihofer @Pixabay

In einem derartigen Veränderungsprozess führt die Württembergische Versicherung ein neues Kernsystem im Bereich der Kfz-Versicherung ein. Die Integration eines Kernsystems ist ein umfassendes und komplexes Projekt, das nicht nur technische Fähigkeiten erfordert, sondern auch ein aktives Change-Management benötigt. Um eine erfolgreiche Einführung zu gewährleisten, ist es wichtig, die fachliche und technische Komplexität beherrschbar zu machen und in kleineren Entwicklungsstufen den langen Weg zum eigentlichen Ziel zu gehen. Darüber hinaus ist die vorhandene Aufbauorganisation auf diese Veränderung vorzubereiten und laufend zu begleiten.

Prozessorientierung als Projektmethodik

Bei einer so komplexen Aufgabe wie der Einführung eines neuen Kernsystems für die Bestands- und Schadenverwaltung innerhalb eines Systemverbunds braucht es eine Stärkung des Bewusstseins dafür, dass fachliche Prozesse durch mehrere Abteilungen fließen und mit mehreren Systemen interagieren. Eine rein funktionale Steuerung wird der Komplexität an fachlichen und technischen Schnittstellen nicht gerecht. Nur über einen prozessorientierten Ansatz können eine grenzenlose Zusammenarbeit und das Erarbeiten gemeinsamer Lösungen zur Erreichung übergreifender Unternehmensziele gelingen (vgl. Abbildung).

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Fachprozesse benötigen eine Vielzahl von aufbauorganisatorisch verankerten Funktionen © Württembergische Versicherung

Daher hat die Württembergische Versicherung den Entschluss gefasst, eine Matrixorganisation in der Projektarbeit zu etablieren, in der die fachlichen Prozesse über die Abteilungen gelegt sind und die gesamte Projektsteuerung anhand dieser Fachprozesse erfolgt. Dies hilft dabei, alle Abteilungen der Wertschöpfungskette im Blick zu behalten und sicherzustellen, dass kein Puzzleteil verloren geht. Die prozessorientierte Steuerung führt darüber hinaus zu einem besseren Prozessverständnis in den funktionalen Teams und fördert das nutzerzentrierte Denken im Sinne des End-to-End-Kundenprozesses. Praktisch umgesetzt, wird die in der Aufbauorganisation vorhandene funktionale Aufstellung also um eine fachliche Prozesssteuerung ergänzt. Die Etablierung von Prozessverantwortlichen über alle Abteilungen hinweg sichert darüber hinaus die Kundenperspektive und den End-to-End-Prozess als Ganzes ab. 

Mit Scope-Management Komplexität beherrschen

Schon früh hat sich die Württembergische Versicherung für eine Strategie zum konsequenten Einsatz von Standardsoftwarelösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette entschieden. Eine Konsequenz daraus ist die Ablösung von Großrechnersystemen, die auch aufgrund technologischer und demographischer Entwicklungen notwendig ist. Unter der demografischen Entwicklung ist hier insbesondere zu verstehen, dass das Know-how für Großrechnersysteme nicht mehr Gegenstand aktueller IT-Ausbildungen ist und somit schrittweise aus dem Arbeitsmarkt herauswächst. In einer Organisation von der Größe der Württembergischen gleicht die Einführung eines solchen Systems einer Mammut-Aufgabe. Um diese erfolgreich zu meistern, ist es daher entscheidend, den Prozess in Stufen aufzuteilen. Ein detailliertes Scope Management hilft bei der Überwachung der Projektziele, erlaubt eine regelmäßige Standbeurteilung und laufende Adjustierungen. Darum wurde im Falle der Württembergischen Versicherung das neue System, Adcubum Syrius zuerst bei der Tochtergesellschaft Adam Riese eingeführt. Dort in einem Greenfield-Approach, also mit einer reduzierten Anzahl an Umsystemen, um die Komplexität des Schnittstellenaufbaus beherrschbar zu machen. Mit diesem Ansatz wurde der Projektumfang begrenzt, um schnell erste produktive Erfahrungen mit dem neuen Kernsystem zu erlangen. Im zweiten Schritt wurde der Greenfield-Approach erweitert und die Zahl der angebundenen Umsysteme erhöht. Um auch in diesem Schritt schnell Erfahrungen sammeln zu können, wurde die Zahl der Umsysteme in einem Umfang erhöht, der zwar bedeutende, aber nicht alle Geschäftsprozesse abbildet. Schritt für Schritt wird nun in der Folge die eingeführte Lösung um Funktionalitäten erweitert.

Time-to-Market verbessern durch No-Code-Ansatz

Die Umstellung auf eine neue Technologie verfolgt natürlich wirtschaftliche Ziele. Neben Faktoren wie Wartungs- und Lizenzkosten spielt darüber hinaus aber auch das Ziel der Optimierung der Time-to-Market eine erhebliche Rolle. Mit der Time-to-Market wird gemeinhin die Zeitdauer verstanden, die erforderlich ist, um eine fachliche Idee zu realisieren und dem Kunden zur Verfügung zu stellen. In monolithischen Systemwelten sind oftmals bereits für einfachere fachliche Produkt- oder Preisanpassungen aufwendige Eingriffe in die IT-technische Implementierung (Coding) notwendig.

Unter dem No-Code-Ansatz ist hingegen zu verstehen, dass fachliche Änderungen auch ohne den Eingriff in das Coding vorgenommen werden können. Über Konfigurationsmöglichkeiten (bei Adcubum Syrius wird dies als Parametrierung bezeichnet) werden Fachspezialisten in die Lage versetzt, Produkt- und/oder Preisanpassungen selbst vorzunehmen und so selbst die Kontrolle über die Entwicklungsprozesse übernehmen zu können. Die Time-to-Market verkürzt sich erheblich, da die IT-Abteilungen oder gar externe IT-Dienstleister seltener involviert werden müssen. Durch die Verwendung von parametrierbaren Lösungen wie Adcubum Syrius können Mitarbeiter des Fachbereichs einen Großteil der fachlichen Änderungen selbst durchführen. Gerade beim No-Code-Ansatz ist die oben dargestellte End-to-End Prozesssicht Voraussetzung für eine nahtlose Integration.

Change-Management als Bestandteil des Projekterfolgs

Die Einführung eines neuen Kernsystems ist ein bedeutendes Unterfangen, das nicht nur signifikante Auswirkungen auf die Effizienz und Effektivität des Unternehmens, sondern auch auf die Mitarbeiter hat. Es ist daher äußerst wichtig, dass der Übergang angemessen begleitet wird. Aktives Change-Management beinhaltet nicht nur Schulungen und Unterstützung für die Mitarbeiter, um das neue System effektiv zu nutzen, sondern auch eine angemessene Vorbereitung auf Veränderungen. Die Veränderung beginnt dabei nicht erst mit der produktiven Einführung des Systems, sondern umfasst auch bereits die Phase des Aufbaus, also die Projektarbeit. Professionelles Projektmanagement, gepaart mit prozessualen Arbeitsmethoden, erfordert Fähigkeiten, die nicht als Standard vorausgesetzt werden dürfen. Diese Fähigkeiten sind zu entwickeln und die Veränderungsgeschwindigkeit und -fähigkeit der Organisation ist zu berücksichtigen. Im Falle der Württembergischen Versicherung wurde beispielsweise die Parametrierung in die Fachbereiche verlegt. Damit hat der Fachbereich erstmalig die Möglichkeit, selbst operative Prozesse zu beeinflussen. Diese Möglichkeit birgt enormes Potenzial, ist jedoch auch mit großer Verantwortung verbunden, was Prozess- oder Testmanagementkompetenzen anbelangt.

Zu guter Letzt bleibt festzuhalten, dass ein Veränderungsprozess, der mit der Einführung eines neuen Kernsystems, der Abkehr von monolithischen Systemwelten und dem Aufbau eines No-Code-Ansatzes verbunden ist, eine Mammut-Aufgabe für Menschen, Technik und Organisation bedeutet. Quick-Wins sind dabei selten zu finden. Nichtsdestotrotz ist es ein notwendiger Schritt zum Erhalt und nachaltigen Ausbau der eigenen Wettbewerbsfähigkeit.

Autor: Dr. Oliver Kuhnle

Dr. Oliver Kuhnle hat an der Universität Stuttgart im Bereich Finanzwirtschaft promoviert und ist bereits 14 Jahre in der W&W-Gruppe aktiv. Seit 2011 war er als Führungskraft in den Bereichen Risikomanagement, Lebensversicherung und Personenversicherung tätig, bevor er 2017 als Geschäftsführer den Digitalversicherer Adam Riese innerhalb von 9 Monaten „auf der grünen Wiese“ aufgebaut hat. Seit 2020 ist er Programmleiter des aktuell größten Strategie-Programms der Württembergischen Versicherung zur Einführung eines neuen Komposit Kernsystems.