Viele Versicherer investieren bereits in die Modernisierung ihrer IT, bislang jedoch vor allem am Frontend, wohl wegen der besseren Sichtbarkeit. Das wird auf Dauer nicht genügen: Um die Potenziale auszuschöpfen, müssen IT-Systeme durchgehend Mindestanforderungen erfüllen, dazu gehört etwa die Ermöglichung von Echtzeit-Datenzugriff und agiler Entwicklung. Kurz: Es gilt, die Kernsysteme umfassend zu modernisieren.
Enorme Potenziale
Wer sich zu diesem Schritt entschließt, profitiert von Ergebniseffekten aus drei Quellen:
- Bruttoprämienzuwachs. Sind alle Prozesse rund ums Produkt digitalisiert und flexibilisiert, lassen sich Neuerungen schneller einführen. Und nicht nur das: Durchgängig integrierte Prozesse verbessern das Nutzererlebnis und den Support für Absatzmittler – was sich in der Kundenzufriedenheit und treue niederschlägt. Einige Sach- und Unfallversicherer konnten so ihr Prämienaufkommen um 0,5 bis 1 Prozent steigern; ähnliche Effekte sind auch in Leben zu beobachten.
- Höhere Produktivität. Die Modernisierung der Kernsysteme nehmen viele zum Anlass, ihre Betriebsabläufe gleich mit zu modernisieren. Mit beeindruckenden Ergebnissen, wie unsere jährliche Branchenbefragung zeigt: So ist die Anzahl der Policen pro Mitarbeitenden bei Versicherern mit modernisierten Kernsystemen im Schnitt über 40 Prozent höher.
- Geringere IT-Kosten. Die Kosten der Kernsysteme können durch Modernisierung oft deutlich gesenkt werden, etwa durch Umstieg vom Legacy-Mainframe auf Standardhardware. Laut „Insurance 360°“ kann das, pro Police gerechnet, mehr als 41 Prozent ausmachen.
Auch sonst kann die IT-Modernisierung Kosten senken, etwa durch präzisere Schadenabwicklung: Sind Datenmodelle von Vertrags- und Schadensystemen harmonisch miteinander verknüpft, können zum Beispiel im Schadenfall die Details direkt mit den Versicherungsbedingungen und Deckungssummen abgeglichen werden oder auffällige Muster in Schadenanzeigen, Kostenvoranschlägen oder Rechnungen erkannt werden.
Ob und inwieweit ein Unternehmen all diese Potenziale erschließt, hängt davon ab, wo es heute steht und wie effektiv es Produkte, Strukturen und Prozesse optimiert. Dass es bei der Modernisierung oft zu Enttäuschungen kommt, hat meist einen simplen Grund: Die Umstellung der Kernsysteme wird als reines IT-Projekt betrachtet, alte Funktionalitäten werden mit neuen Systemen nachgebaut. Was allzu oft vergessen wird: Die Effekte einer IT-Modernisierung sind im gesamten Unternehmen spürbar – somit empfiehlt es sich, das Betriebsmodell gleich mit anzupassen.
Erfolgreiche Transformationen folgen denn auch einem integrierten Ansatz, der die IT-Sicht mit der Kundenperspektive und betrieblichen Anpassungen verknüpft. Zugegeben, ein anspruchsvolles Programm – doch spürbare Erfolge sind damit weitaus wahrscheinlicher als mit punktuellen Systemverbesserungen, die die Komplexität nicht an der Wurzel packen, sondern eher verschlimmern.
Drei Wege zum Ziel
Versicherer müssen sorgfältig abwägen, welcher IT-Modernisierungsansatz zu ihrem Betriebsmodell passt.
Wie ist die Transformation anzugehen? Grundsätzlich lassen sich drei Optionen unterscheiden: die schrittweise Modernisierung der Legacy-Plattform, der Aufbau einer neuen, proprietären Plattform und der Kauf eines Standardsoftwarepakets. Alle drei Optionen haben Vor- und Nachteile.
Schrittweise Modernisierung der Legacy-Plattform
Versicherer mit alten, noch funktionalen IT-Plattformen, die aber technisch überholt sind, haben nur begrenzte Möglichkeiten. Für einige mag ein „Refactoring“ in Betracht kommen – dabei wird nur die interne Struktur, nicht aber die Funktionalität des Systems verändert. Das ermöglicht den Umstieg auf eine moderne Technologie unter Beibehaltung maßgeschneiderter Funktionen.
Ein skandinavischer Sachversicherer ging diesen Weg: Sein Schadensystem basierte auf einer völlig veralteten Technologie, die er mittels Refactoring modernisierte. Die Programmcodes wurden 1:1 migriert; teils automatisch, teils per manueller Neuprogrammierung. Das Vorgehen ist nicht unriskant: Eine 1:1-Codemigration bedeutet immer auch Verzicht auf eine moderne Datenarchitektur und Systemintegration; ferner hat sich Refactoring in einigen Fällen als aufwendig erwiesen – entweder weil die Umstellung der Codes nicht so einfach automatisiert werden konnte oder weil mit refaktorisierten Codes die Vorteile moderner Programmiersprachen nicht genutzt werden konnten. Zudem sind spätere Änderungen komplex und zeitaufwendig.
Andere Versicherer entschieden sich daher für das „Blackboxing“: Sie führen eine leistungsfähige Integrations- und Geschäftsprozesses-Orchestrierungsschicht ein, die das Kernsystem als Schnittstelle für Nutzer und Vertriebspartner ablöst; damit heben sie bereits einen Großteil des Wertpotenzials aus Geschäftssicht.
Das Kernversicherungssystem selbst rückt in den Hintergrund und stellt nur noch seine Funktionen als Services zur Verfügung. Nach und nach modernisieren besagte Versicherer intern das so entkoppelte Backend, indem sie Funktionen aus dem Altsystem herauslösen und erneuern. Das kann unter Risiko- und Kostengesichtspunkten attraktiv sein, praktikabel ist es aber nur mit gut gewarteten und dokumentierten, stabilen und leistungsfähigen Kernsystemen – und bei intern vorhandenen Wartungskapazitäten.
Aufbau einer proprietären Plattform
In den IT-Anfangszeiten war der Aufbau einer proprietären Plattform für Versicherer die einzige Option. Man schuf sich eine Systemarchitektur, die die eigenen Anforderungen perfekt erfüllte.
Einige etablierte Anbieter machen das immer noch so. So ließ ein europäischer Lebensversicherer eine proprietäre, webbasierte Plattform neu entwickeln und die lokalen Angebote nach und nach implementieren. Seine Verwaltungskosten konnte er damit um 30 Prozent senken. Ein US-Anbieter für Spezial- und gewerbliche Versicherungen ließ mangels passender Angebote im Markt eine Plattform nach seinen Wünschen maßschneidern: Sie basiert auf einer datenzentrierten Architektur und bietet starke Analytics-Funktionalitäten; in Underwriting und Vertragsverwaltung wurden nahtlose End-to-End-Prozesse realisiert.
Auch viele Insurtechs lassen sich eigene Plattformen bauen, da sie sich stark über die Kernsysteme differenzieren. Allerdings müssen sie auch kein Altsystem modernisieren.
Nachteile des Eigenbaus, verglichen mit den anderen beiden Optionen, sind tendenziell höhere Kosten, längere Realisierungszeiten und höhere Risiken. Dass in der Programmierphase Funktionalitäten eingefroren werden müssen, zeigt sich oft als Herausforderung; auch bergen Eigenentwicklungen immer das Risiko, nicht innovativ genug zu sein – etwa weil es internen IT-Funktionen an Kreativität, Spezialwissen oder Projektmanagement-Know-how mangelt. Nicht selten verzetteln sich Projekte mit Funktionen, die für die Differenzierung unerheblich sind.
Kauf von Standardsoftware
Softwarepakete „von der Stange“ werden für Versicherer immer attraktiver: Sie sind meist schlank und enthalten bereits die nötigen Funktionalitäten für alle relevanten Bereiche. Ihre Vorteile lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Schnellere und risikoärmere Implementierung als bei Modernisierung oder Neuaufbau einer Plattform
- Best-Practice-Funktionalität und regelmäßige Upgrades, ob für Produkt- und Prozess-Upgrades oder wegen gesetzlicher Anforderungen
- Kostenersparnis bei gemeinsamer Entwicklung mit anderen Versicherern
- Zugang zu einem externen Pool von Fachleuten.
Auch wenn diese Vorteile nicht immer alle realisiert werden können, bleibt die Standardsoftware eine attraktive Option. Ein großer europäischer Versicherer nutzt für einige Sachprodukte Standardsoftware – damit kann er Schadenbewertungen und Preise im Wochenrhythmus ändern. Die Markteinführungszeit für Neuerungen reduzierte sich von mehreren Monaten auf einige Tage, auch die Einarbeitung im Vertrieb geht zügiger – das alles bei geringeren Gesamtkosten.
Einige Herausforderungen bleiben jedoch: Das Softwarepaket muss zum Unternehmen passen; die Implementierung erfordert ein gründliches Umdenken – von „anything goes“ zu „simplicity first“, von der Neuprogrammierung zur Konfiguration einer Standardlösung.
Denn andernfalls könnte sich das Ganze als kostspielig, zeitaufwendig und weniger nutzbringend erweisen als erhofft. Auch kann die Abhängigkeit vom externen Anbieter, von dessen Software und dessen Entwicklungsfahrplan die eigene Flexibilität einschränken und die Kosten erhöhen.
Im Ergebnis steht eine gemischte Marktdynamik, die sich sehr zwischen den Märkten unterscheidet. In den USA setzen neun der zwölf größten Sachversicherer in der Schaden- und Vertragsverwaltung Standardsoftware ein; auch in Mittel- und Osteuropa, den nordischen Ländern und dem Vereinigten Königreich ist sie verbreitet.
In Deutschland und anderen west- bzw. südeuropäischen Ländern setzt sich Standardsoftware trotz steigender Zahlen bislang eher zögerlich durch, unter anderem weil viele der bislang initiierten Projekte eine deutlich zu lange Amortisationszeit oder gar negativen RoI zeigen und zu viele Kapazitäten, insbesondere auf der Fachseite, binden.
Keine einfache Entscheidung
Welcher der drei Ansätze im Einzelfall der richtige ist, hängt von mehreren Faktoren ab: dem Zustand des Altsystems, dem eigenen Anspruch, der Verfügbarkeit einer passenden Standardlösung, der Kompetenz interner IT-Funktionen und den verfügbaren Ressourcen.
Versicherer mit begrenzten IT-Kapazitäten, die von Marktstandards profitieren wollen, fahren meist mit Standardsoftware am besten. Wer sehr spezifische Anforderungen hat oder sich stark über sein Kernsystem differenziert, wird sich eher für den Auf oder Zusammenbau einer eigenen Plattform entscheiden.
Für Unternehmen, deren Kernsysteme veraltet, aber stabil und gut gewartet sind – womöglich sogar punktuell modernisiert –, kann es interessant sein, die vorhandene Plattform zu modifizieren und einzelne Elemente, etwa die Integrationsebene, aufzurüsten.
Mit zu bedenken ist auch, wann und inwieweit der Vertragsbestand migriert werden soll. Die meisten Versicherer wählen eine gemeinsame Plattform für das Bestands- und Neugeschäft, andere implementieren zunächst eine neue Lösung fürs Neugeschäft mit der Option, ihr Bestandsgeschäft später zu migrieren oder gar langfristig aufzugeben. Welcher Weg auch immer gewählt wird: Angesichts der voranschreitenden Digitalisierung führt an der Modernisierung der Kernsysteme kein Weg vorbei. Wer sie ganzheitlich angeht und sein Geschäftsmodell mit modernisiert, kann sich enorme Vorteile erschließen.