Verbraucherverhalten, Wettbewerb, Gesetzgeber und Aufsicht sorgen in der Assekuranz für permanente Veränderungen der Rahmenbedingungen. Um im Wettbewerb zu bestehen, müssen Versicherer heute sehr schnell, oft innerhalb weniger Wochen, auf veränderte Marktbedingungen reagieren können.
Nur wenige Versicherer haben ihre Organisations- und IT-Infrastrukturen konsequent an die heutigen Anforderungen angepasst. Die meisten Unternehmen der Assekuranz kämpfen nach wie vor mit monolithischen Mainframe-Anwendungen. Problematisch sind insbesondere die häufig noch anzutreffenden, unterschiedlichen Produktsysteme, etwa für Angebot, Portal oder Backoffice. Sind hier Anpassungen notwendig, resultieren daraus hohe Entwicklungs- und Testaufwände. Ebenso lassen sich Prozessoptimierungen aufgrund der systembedingten geringen Flexibilität der Anwendungssysteme oft nicht in erforderlichem Umfang und Zeitrahmen umsetzen. Weitere Zeitfallen liegen in aufwändigen Abstimmungsprozeduren zwischen Fachabteilung und IT sowie in iterativen Testläufen zur Qualitätssicherung. Die heutigen Marktanforderungen decken diese Versäumnisse der Vergangenheit schonungslos auf.
Das Management der ERGO Direkt, vormals KarstadtQuelle Versicherungen, erkannte früh die Bedeutung schlanker, hochperformanter Prozesse zur Sicherung des Unternehmenserfolges. Bereits 2002, kurz nach der Integration des Unternehmens in den ERGO-Konzern, gab das Management eine klare Leitlinie für die IT vor, um die bis dato noch unzureichende Prozessoptimierung gezielt voranzutreiben: „Wir wollen künftig wesentlich flexibler als bisher mit unseren Prozessen auf Veränderungen reagieren können und gleichzeitig möglichst viel automatisieren.“ Mit diesem Anspruch startete das Unternehmen 2005 einen innovativen Ansatz für die weitere Entwicklung ihrer IT-Landschaft und zur konsequenten Prozessoptimierung. Alle kundenbezogenen Geschäftsabläufe sollten möglichst fallabschließend im Frontoffice durchgeführt und erheblich beschleunigt werden. Für die IT-Mannschaft unter Leitung von Bernd Fees bedeuteten diese Vorgaben der Geschäftsleitung keine leicht zu lösende Aufgabenstellung. Das bestehende Mainframe-System war zu diesem Zeitpunkt in PL/1 und C geschrieben. Das Wissen über Prozesse und Produkte steckte in den Programmen. Veränderungen der Software waren bis dato nur mit erheblichem Aufwand zu bewerkstelligen. Schnell war klar, dass die vorgegebenen Leitlinien mit den bisherigen Programmiermethoden und Entwicklungsverfahren nicht zu erfüllen waren und ein grundlegend neuer Ansatz gefunden werden musste.
Nach diesen ersten Vorüberlegungen holte man sich mit Faktor Zehn einen auf die Versicherungsbranche spezialisierten IT-Dienstleister als externen Partner ins Haus, um die breite Palette an Technologiefragen in einem angemessenen Zeitrahmen klären zu können. Gemeinsam wurde der Vorgehensrahmen abgesteckt: Weiterhin in die vorhandene starre Mainframe-Architektur zu investieren kam nicht in Frage. Dagegen zeichnete sich mit Blick auf die künftigen Anforderungen ein klares Votum für eine modular erweiterbare serviceorientierte Architektur (SOA) ab.
Auf der Grundlage der vom Projektteam ausgearbeiteten Vorstudie entschied sich das IT-Management für ein langfristig angelegtes Refactoring des bestehenden Bestandssystems in eine JEE-Zielarchitektur. Mit diesem Ansatz wird seitdem die bisherige Geschäftslogik durch das IT-Team der ERGO Direkt unterstützt von Experten der Faktor Zehn Schritt für Schritt in JEE reimplementiert. Ziel ist hierbei, nach einem vorab festgelegten Stufenplan die nach fachlichen Gesichtspunkten gestalteten Services als Komponenten für andere operative Systeme wie Angebot, Internet oder Schaden bereitzustellen. Für jede Stufe hat sich das Projektteam einen Zeitrahmen von neun bis zwölf Monaten gegeben, an dessen Ende jeweils eine lauffähige Software stehen soll. Um sicherzustellen, dass die Geschäftslogik in der Zielarchitektur nicht wiederum schwer auffindbar im Programmcode verborgen ist, wurden Produkt- und Vertragsstrukturen von Beginn an konsequent durch Modelle beschrieben. Aus diesen Modellen werden letztlich große Teile des Programmcodes generiert. Dieses als modellgetriebene Entwicklung bezeichnete Verfahren verspricht erhebliche Zeit- und Qualitätsvorteile. So zeigte sich in der Praxis, dass in den meisten Fällen 60 bis 80 Prozent des Quellcodes automatisch und im Vergleich mit manueller Programmierung in der Regel auch mit verbesserter Qualität generiert werden können.
Der Nutzen des seit vier Jahren erprobten Lösungsansatzes, Prozessoptimierung auf Basis moderner IT-Technologien und Open-Source-Komponenten gezielt voranzutreiben, zeigt sich insbesondere im zeitkritischen Produktentwicklungsprozess. Für die Entwicklung der zentralen Produktkomponente verwendet der Direktversicherer seit Anfang 2006 das Open-Source-Produktentwicklungssystem „Faktor-IPS“ von Faktor Zehn (siehe Infokasten).
Die Produktmodelle für die einzelnen Sparten werden in enger Zusammenarbeit von Anwendungsentwicklung und Fachabteilung entwickelt. Auf Basis des fertigen Modells wird Java-Programmcode generiert, der von den Anwendungsentwicklern um die spezifischen fachlichen Anforderungen der jeweiligen Sparten erweitert wird. Die fertigen Produktservices lassen sich mit überschaubarem Aufwand in die nutzenden Systeme wie etwa Internetportal, Angebotssysteme oder Bestandsführungssystem integrieren. Die technische Umsetzung erfolgt dabei angepasst an die verschiedenen technischen Plattformen, die im Versicherungsunternehmen eingesetzt werden. Diese reichen dabei vom IBM-Host über JEE-Applikations-Server unter Linux hin zu einfachen Arbeitsplatzrechnern mit Microsoft Windows. Nach diesem Verfahren sind inzwischen die Sparten Krankheit, Unfall, Hausrat, Haftpflicht, Dauergarantie und Kfz im produktiven Einsatz.
Heute hat die ERGO Direkt eine einzige Implementierung ihrer Produktlogik, die einheitlich in allen Systemen und auf allen Plattformen verwendet wird. Das spart erheblichen Entwicklungs- und Testaufwand und reduziert die Einführungszeiten für neue Produkte. Gleichzeitig sind mögliche Fehlerquellen minimiert: Die Produktlogik des angepassten Produktes wird vor der Implementierung abschließend durch die Fachabteilung getestet. Hierfür muss weder das operative System angepasst werden, noch sind Produktionsdaten erforderlich. Die IT, die bisher neue Produktgenerationen oder -varianten entwickeln und testen musste, kann sich auf die Anpassung der operativen Systeme (Bestandssystem, Vertriebs- und/oder Außendienstsysteme) konzentrieren.
Ein nicht zu unterschätzender Vorteil des gewählten Ansatzes zeigt sich in der praktischen Umsetzung: Auf Basis der mit Faktor-IPS entwickelten Produktmodelle kann die Fachabteilung konkrete Produkte definieren, ohne dass hierfür Programmierwissen erforderlich ist. Dies erleichtert erheblich das Zusammenspiel von IT und Fachabteilung. Lassen sich neue Produktideen noch nicht mit dem Produktmodell realisieren, können die Verantwortlichen die notwendigen Änderungen auf Basis des Produktmodells diskutieren. Als notwendig erachtete Erweiterungen werden erst im fachlichen Modell durchgeführt, bevor auch nur eine einzige Codezeile entsteht. Bei der Einführung von gänzlich neuen Produkttypen ist nach wie vor eine enge Zusammenarbeit von Anwendungsentwicklung und Fachabteilung unumgänglich, da die Einführung eine Reihe von Änderungen in den operativen Systemen und in den Geschäftsprozessen erfordert. Allerdings wird auch hier die interdisziplinäre Zusammenarbeit durch die gemeinsame Nutzung von Faktor-IPS unterstützt und somit auch die Neuentwicklung von Produkten beschleunigt. Im Projektalltag als unverzichtbar erwies sich das in Faktor-IPS integrierte Konfigurationsmanagement. Mit diesem ist jederzeit transparent nachzuvollziehen, wer wann welche Änderung veranlasst hat. Fehler können so schneller lokalisiert und mit deutlich weniger Abstimmungsaufwand korrigiert werden. Folglich halten sich auf diese Weise auch die Entwicklungsaufwände in engen Grenzen.
Aus Sicht des IT-Managements ermöglicht das Refactoring einen deutlich höheren Wertbeitrag der eingesetzten IT-Applikationen als herkömmliche Methoden. Die in einer vollständigen Neuentwicklung von Anwendungen steckenden Risiken werden vermieden, notwendige Veränderungsschritte gezielt an fachlichen oder technischen Anforderungen ausgerichtet. Ein weiterer Nutzenaspekt: Die Funktionalität der bestehenden Systeme bleibt während des gesamten Veränderungsprozesses voll erhalten. Störungen des laufenden Betriebes halten sich in engen Grenzen. Die Vorteile des von ERGO Direkt verfolgten Refactoringansatzes sollen künftig verstärkt im Rahmen der derzeit laufenden Prozessoptimierungen im Backoffice-Bereich genutzt werden.
Bezogen auf die Produktentwicklung ist eine beschleunigte Time to Market erkennbar. Neue Produktgenerationen oder Produktvarianten in den einzelnen Kompositsparten legt die zuständige Fachabteilung des Direktversicherer heute erheblich schneller auf als noch vor fünf Jahren. -